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VELOJOURNAL | Ausgabe 01/2019

von Urs-Peter Zwingli (Journalist VELOJOURNAL)

Schlaflos durch die Nacht

Beim Velomarathon Paris–Brest–Paris quälen sich dieses Jahr wieder rund 6000 Amateurfahrer 1200 Kilometer am Stück durch Frankreich. Die Qualifikation für die älteste Veloveranstaltung Europas läuft auch in der Schweiz – mit Rundfahrten über wilde Pässe und raue Gravelstrassen.

Der Velomarathon Paris–Brest–Paris (PBP) ist eine Tour voller Schmerzen, Zweifel und Schlafentzug. Von Paris aus 600 Kilometer nach Brest am Atlantik fahren, wenden und zurück in die Hauptstadt – das alles in maximal 90 Stunden. Die Qualifikation dafür ist ein Abenteuer für sich, das Velofahrer auch in der Schweiz erleben können: Der Verein Audax Suisse/Diables Rouges organisiert neun Rundfahrten, welche die Fahrer auf die Tortour vorbereiten sollen. Von einer fast gemütlichen 200er-Tour mit 1043 Höhenmetern um den Bodensee bis zum 1022-Kilometer-Monster mit 10'750 Höhenmetern ist alles dabei.

 

Der kleine Sportverein aus Buch (SH) plant diese in der Tradition der Radsportnation Frankreich Brevet genannten Touren ehrenamtlich. «Wir machen das aus Freude an der Velokultur», sagt Thomas Bührer von Audax Suisse. «Zudem sitzen wir dank der Planung selber viel auf dem Velo: Wir fahren jede Strecke kurz vor der Durchführung ab, um sie zu überprüfen und letzte Korrekturen zu machen.» Bührer und seine Kollegen schonen sich nicht: Bis und mit dem 600er fahren sie die Touren unter Realbedingungen ab, nur den 1000er unterteilen sie in Etappen.

Ein Radler während des 1000er-Brevets kurz nach der Gorge de l'Areuse im Jura.
Ein Radler während des 1000er-Brevets kurz nach der Gorge de l'Areuse im Jura.

Wer an PBP teilnehmen will, spult schon vor dem grossen Tag viele Kilometer ab: Zugelassen für einen der rund 6000 Startplätze in Paris wird nur, wer im aktuellen Jahr eine Serie Brevets von 200, 300, 400 und 600 Kilometern in einem jeweils vom Organisator Audax Club Parisien vorgegebenen Zeitlimit schafft. Auch die Schweizer Brevets – offiziell von Paris anerkannt – richten sich nach diesen Zeitvorgaben.

NEUE STRECKEN DANK GRAVEL-ABSCHNITTEN

Die Szene ist bunt. «Bei unseren Brevets kommen angefressene Velofahrer mit Geniessern oder auch blutigen Anfängern zusammen», sagt Bührer. «Die Stimmung ist offen, unter den Fahrern herrscht ein guter Austausch, gegenseitige Unterstützung ist selbstverständlich.» Damit werden Werte gelebt, die auch vom Audax Club Parisien in dessen Reglement hochgehalten werden: «Jeder Teilnehmer hat in Auftreten und Haltung korrekt zu sein», heisst es dort etwa. Und obwohl man ein Zeitlimit einhalten muss, geht es nicht darum, als Erster ins Ziel zu fahren. «Das Ziel des Randonneurs ist nicht, ein Rennen zu fahren, sondern eine Herausforderung zu meistern. Der Schnellste zu sein, bedeutet nicht, der Beste zu sein», steht in der aktuellen Broschüre von PBP.

 

Im Zentrum steht weiter die Selbstversorgung des Randonneurs (Wanderer), wie die Langstrecken-Velofahrer genannt werden. Jeder Randonneur muss für alles vorsorgen, was er für sein Brevet braucht. Auf der Route ausserhalb der wenigen Kontrollpunkte ist Hilfe von eigenen Trainern, Mechanikern oder Physiotherapeuten nicht gestattet. Gegenseitiger moralischer Support ist erlaubt und manchmal nötig, denn die Strecken von Audax Suisse haben es in sich: Bei jedem Brevet sind bis zu fünf Prozent der per GPS-Navigation vorgegebenen Strecke auf Kiesstrassen zu fahren – darum auch der deutliche Hinweis auf der Website des Vereins, dass der Randonneur auf dem Rennvelo mit pannensicheren Reifen von 25 Millimetern Breite besser unterwegs ist. «Wir kommen ursprünglich vom Mountainbikesport und haben später mit dem Gümmelen angefangen. Rennen wie etwa Paris–Roubaix finden wir toll», erklärt Bührer seine Liebe zu holprigen Abschnitten.

"Diejenigen, die sich für PBP 2019 qualifizieren wollen,

wählen eher Brevets mit weniger Gravel, da diese

einfacher zu finishen sind."

Wer diese Liebe teilt, sollte an einem der Brevets mit dem Zusatz THB (Teuflisches Hardcore-Brevet) teilnehmen. Dort verläuft bis zu einem Drittel der Strecke auf Gravel. Dass nicht ausschliesslich Teerstrassen befahren werden, eröffnet für die Streckenführung neue Möglichkeiten: So wird etwa auf dem 400er-Brevet mit dem Titel Hells Ridge die Schwägalp nicht auf der stark befahrenen Passstrasse von Urnäsch aus erklommen, sondern auf einer alten, nur teilweise befestigten Passstrasse von Weissbad her. Auch sonst werden gerne wilde Pässe wie etwa die Vordere Höhe vom Toggenburg zum Walensee oder der verkehrsberuhigte Pragelpass befahren.

Neben kleinen Pässen werden auch die Klassiker nicht vernachlässigt: Kurze Pause auf dem Sustenpass.
Neben kleinen Pässen werden auch die Klassiker nicht vernachlässigt: Kurze Pause auf dem Sustenpass.

Daneben gibt es natürlich Brevets, die Klassiker wie den Klausen-, Susten- oder Oberalppass einbauen. «Diejenigen, die sich für PBP 2019 qualifizieren wollen, wählen eher ein Brevet mit weniger Gravel, da diese einfacher zu finishen sind», sagt Bührer. Er schätzt, dass sich rund ein Drittel der Brevetfahrer dieses Jahr für PBP qualifizieren möchten. «Wichtig ist für uns, dass die Fahrer sicher durch die Brevets kommen», sagt Bührer. So stehen die Organisatoren etwa mit den Fahrern per Handy in Kontakt. Diese melden sich beispielsweise, wenn sie eine Passabfahrt sicher hinter sich gebracht haben. «Als Organisator sind wir während eines Brevets fast ständig auf Draht und unterwegs. Viel Schlaf bekommen auch wir nicht», sagt Bührer.

 

Wichtig ist den veloverrückten Schaffhausern zudem der Non-Profit-Gedanke. Eine Anmeldung fürs Brevet kostet um die 50 Franken, dafür erhalten die Teilnehmer eine ausgeklügelte Strecke (samt GPS-File und Online-Tracking), einen Schlafplatz in einer Turnhalle, ein Frühstücksbuffet vor dem Start, Zwischenverpflegung an einigen Kontrollpunkten unterwegs sowie ein wohlverdientes Essen nach dem Brevet.

DIE MAGIE EINER NACHTFAHRT

Für Audax Suisse besteht die Aufgabe darin, Brevets zu planen, die die Balance zwischen Herausforderung und Machbarkeit schaffen – die Randonneure sollen durch die Brevetserie ja eben für PBP gestählt werden. Gleichzeitig sollen nicht zu viele von ihnen verheizt werden. «Ich ziele auf eine Streckenführung, bei der die Finisherquote bei etwa 80 Prozent liegt», sagt Bührer, der jedes Brevet statistisch auswertet.

 

Maximal 150 Personen können bei Audax Suisse aus logistischen Gründen an den Start, für den 1000er meldeten sich bisher jeweils etwa 30 Fahrer an. 1000 Kilometer am Stück Velo zu fahren, ist eine Herausforderung, für die man tatsächlich kühn und verwegen sein muss – so die Übersetzung des lateinischen Wortes Audax. «Fast jeder kommt bei längeren Brevets irgendwann an eine Grenze», sagt Bührer dazu. «Doch die Magie einer Nachtfahrt auf leeren Strassen, die wunderschönen Landschaften und die Freude über das Erreichte entschädigen für alles.»