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Süddeutsche Zeitung (24.05.2019) | Tortur auf zwei Rädern

von Sebastian Herrmann

Tortur auf zwei Rädern

  Radfahrer bereiten sich vor auf die Fernfahrt Paris-Brest-Paris. (Foto: Sebastian Herrmann)
Radfahrer bereiten sich vor auf die Fernfahrt Paris-Brest-Paris. (Foto: Sebastian Herrmann)

Langstrecken zu radeln, erlebt gerade einen Boom. Aber was treibt Menschen dazu, 600 Kilometer am Stück zu fahren?


Hat das Licht geflackert? Ein Schreck dringt durch den Nebel der Erschöpfung und drängt den Schlaf so weit zurück, dass die Kälte spürbar wird. Der Körper zittert, und der Platz auf dem Boden hinter dem Kontoauszugsdrucker wirkt auf einen Schlag: armselig.

 

Eine halbe Stunde zuvor war der Vorraum der Sparkasse in Weiler-Simmerberg im Allgäu noch ein kuscheliges Versprechen gewesen. Die Außentemperatur lag bei etwa zwei Grad, es war kurz nach drei Uhr nachts, und nach etwa 30 Stunden und 580 Kilometern auf dem Fahrrad waren die Augenlider zu schwer und der Körper zu durchgefroren, um noch weiterzufahren. Der Vorraum der Sparkasse lockte die zwei Radler mit Zimmertemperatur. Es brauchte nur einen Augenblick, um auf dem Steinboden zu Füßen der Automaten in Radlermontur einzuschlafen. Es war die zweite durchgefahrene Nacht.

 

Nach der viel zu kurzen Pause wieder in die Gänge zu kommen, entpuppte sich als größte Prüfung auf dieser langen Fahrt. Der Radlkumpel Markus zitterte am ganzen Leib und führte Zeitlupen-Aufwärm-Gymnastik auf, müde, leer, entsetzt von dem Gedanken, wieder raus zu müssen in die Nacht. Zum Glück führte die Straße sofort bergauf, in einen Ort namens Böserscheidegg, bergauf, da wird einem schneller wieder warm. Böse, böse, was für eine miese Aktion, warum nur, warum nur, hallte zum hundertsten Mal die Frage durch die Leere des Schädels, was hat einen zur Teilnahme an diesem Brevet bewogen?

 

Brevet, so werden organisierte Radtouren bezeichnet, in denen innerhalb eines Zeitlimits eine gewisse Strecke bewältigt werden soll - 200, 300, 400, 600, 1000 und 1200 Kilometer sind die klassischen Distanzen. Die Königin der Brevets ist das Langstreckenevent Paris-Brest-Paris, das der Audax Club Parisien alle vier Jahre im August ausrichtet und das 1891 zum ersten Mal stattgefunden hat. Diese Tortur übt eine besondere Faszination auf Langstreckenradler aus, es ist eine gut 1200 Kilometer lange Prozession des Leidens, an der immer mehr Menschen teilnehmen wollen. Mehrere Tausend sind es, und um wirklich einen Startplatz zu ergattern und dann im Kollektiv von der französischen Hauptstadt gen Westen bis nach Brest in der Bretagne zu radeln, umzudrehen und sich wieder nach Paris zurückzuquälen, alles in maximal 90 Stunden, müssen sich die Aspiranten qualifizieren. Nötig ist es, eine Brevet-Serie zu fahren: 200, 300, 400 und dann zum Abschluss 600 Kilometer.

 

Die erste Antwort auf die Frage, warum man auf dem Boden vor den Geldautomaten friert und sich dann wieder raus in die Kälte auf den harten Sattel quält, lautet: Weil einem Wahnwitz eingeflüstert hat, sich für Paris-Brest zu melden und es jetzt ernst geworden ist mit diesem Vorhaben.

Die Extrem-Hippies der Rennradszene

Die Tour startete an einem Donnerstagabend in Buch, einem kleinen Dorf ein paar hundert Meter hinter der Schweizer Grenze, nahe des westlichsten Zipfels des Bodensees. 82 Randonneure - Radwanderer, so nennen sich die Langstreckenradler - zogen dort los in die Abendsonne. Die 600-Kilometer-Route führte nach Tuttlingen, durch das obere Donautal, nach Ulm, Augsburg, München, Andechs, Füssen, durch das Allgäu bis zum Ziel in Kressbronn am Bodensee; Zeitlimit: 40 Stunden. Die Brevet-Szene unterscheidet sich von den Rennradlern, die etwa bei Radmarathons oder anderen Rennen anzutreffen sind: Der Materialfetischismus scheint weniger stark ausgeprägt zu sein. Vielleicht sind Randonneure so etwas wie die Extrem-Hippies oder Ausdauer-Camper des Rennradwesens. Oft trifft man auf solchen Langstreckentouren stille, scheue Menschen. Es ist, als stellten sich diese radelnden Einzelgänger auf diese Weise dem Kampf mit ihren Dämonen, als verlegten sie ihr tägliches Ringen in den Sattel.

 

Das französische Wort Brevet steht für Prüfung, ein treffender Begriff. Die ersten 150 Kilometer dieses 600ers vom Bodensee bereiten jedoch zunächst nichts als: Spaß. Die Räder rollen mühelos über den Asphalt. Es ist ein erhebendes, erfüllendes Gefühl, mit gut 30 Kilometern pro Stunde beinahe ohne Anstrengung in die Nacht zu gleiten, am Hinterrad ein Pulk von vielleicht 40 Gleichgesinnten.

 

Natürlich ändert sich das, natürlich kostet jeder Kilometer Energie. Irgendwann dünnt die Gruppe aus, irgendwann sind wir nur noch zu viert. In den guten Momenten beschert einem ein Brevet Momente umfassender geistiger Ruhe, dann, wenn sich das Gefühl einstellt, einfach nur zu fahren, egal wie schnell, egal wie lange noch, egal wohin, egal, einfach treten, treten, weitertreten. In der Dunkelheit der ersten Nacht entkoppelt sich das Denken von der Vorstellung davon, wo man sich befindet: Der Radcomputer gibt die Strecke vor, aber wo auf einer Landkarte man sich befindet? Keine Ahnung, ist auch egal.

 

In den schlechten Momenten besteht alles aus Schmerz und Verzweiflung, und ohne Tiefpunkt ist eine so lange Tour nicht fahrbar. Auf dieser Strecke schlägt ein Durchhänger im Grauen des ersten Morgens zu: Über den Feldern irgendwo zwischen Ulm und Augsburg hängt Bodennebel, es ist elend kalt, der Schlafmangel und die Anstrengung fordern ihren Preis. Dass nun noch 400 Kilometer zu fahren sind, verstärkt Zweifel, Schmerz, Mutlosigkeit. "Paris-Brest? Auf keinen Fall, niemals", lautet der während der Tour immer wieder stumm ausgestoßene Fluch.

Auf den Schmerz folgt das Glück

Wer schon einige Langstrecken geradelt ist, weiß aber auch: Durchhänger gehen vorüber, irgendwann läuft es wieder. Viele Stunden später rollen die Radler, jetzt nur mehr zu zweit, durch das Allgäu in die zweite Nacht. Vorbei an Schloss Neuschwanstein, durch Immenstadt, ständig bergauf, bergab. Die extreme Dauer und Anstrengung legen mit der Zeit die Emotionen blank, als zerbrösele die Isolierung über stromführenden Kupferkabeln. Über viele Kilometer badet das Empfinden in Sentimentalität, totgefahrene Tiere an Straßenrändern versetzen einen in tiefe Traurigkeit. Diese sportliche Extremerfahrung öffnet Zugänge ins eigene Selbst, die sonst fest verschlossen bleiben.

 

Die Zeit dehnt sich, das Gefühl für die Dauer der Tage löst sich auf, und man fragt sich immer wieder, was man denn eigentlich sucht, auf solchen Touren? Glück? Schmerz? Diese Emotionen gehören zusammen wie zwei Pole: Wo der Schmerz liegt, wohnt auch das Glück in der Nachbarschaft. Und in dieser Region fühlt sich das Leben intensiv an wie sonst niemals. Der Radlkumpel bringt es auf den Punkt: "Währenddessen ist es oft scheiße, aber danach ist alles besser."

 

Hinter Böserscheidegg führt die Route nach Österreich. Der Vollmond steht am Himmel. Im Osten färbt die bald aufgehende Sonne den Horizont glutrot. Die Aussicht öffnet sich auf den Bodensee, der ein paar Hundert Höhenmeter tiefer liegt, umrahmt von den Lichtern der Orte. Es könnte keinen schöneren, keinen besseren Augenblick geben, um an diesem Ort zu sein, ein perfekter Moment. Jetzt noch bergab, ein paar Kilometer weiter, dann ist das Ziel erreicht und aller Zweifel explodiert zu Glück. Paris-Brest-Paris? Ja, natürlich, was für eine Frage, klar sind wir dabei! Denn danach wird alles besser sein.